Ich = Ich + Du
Jedes private Besitztum ist mit einer sozialen Hypothek belegt…
Von Unica Peters
Die hispanische Befreiungstheologin und Feministin Ada María Isasi-Díaz über „Solidarity – The Social Contract of the 21st Century“.
Prof. Isasi-Díaz verdeutlicht anhand der Leitwerte der französischen Revolution –liberté, égalité, fraternité die Notwendigkeit von Solidarität.
Der auf das Prinzip der Solidarität verweisende Wert der Brüderlichkeit ist laut Isasi-Díaz als einziger der drei Begriffe in unserer westlichen Welt nicht als Gesetz kodifiziert worden. Dabei ist Solidarität in Zeiten der Globalisierung unabdingbar, um Gerechtigkeit zu erreichen. Verstanden ist Solidarität hier als gemeinsame Verantwortung und gemeinsame Interessen. Bedürftige und Besitzende sind intrinsisch miteinander verbunden; Menschen sind soziale Wesen.
Wir gehen moralisch und auch wirtschaftlich zugrunde, wenn wir uns von den Menschen der „Dritten Welt“ nicht zum Nachdenken über unseren Lebensstandard herausfordern lassen. Zu ihnen stehen wir in einem beidseitigen Abhängigkeits-Verhältnis.
Wir tragen Verantwortung füreinander und haben Anspruch auf gegenseitige Unterstützung. Deswegen geht Solidarität ihrer Struktur nach deutlich über Wohltätigkeit hinaus, auch wenn Letztere nichts Schlechtes ist.
Solidarität bedeutet nicht, zu applaudieren, wenn Unterdrückte
für ihre Rechte kämpfen. Solidarität bedeutet, sich den kritischen
Anfragen und den Forderungen nach Unterstützung, mit denen
sie sich an uns Privilegierte wenden, zu stellen.
Dass die Armen und Schwachen dieser Welt solche Erwartungen
und Wünsche haben, beschrieb Ada María Isasi-Díaz am Beispiel
einiger katholischer Nonnen in einem ländlichen Teil Südamerikas,
die sie auf einer Reise besuchte.
Kurz vor der Abfahrt berichteten die Frauen, ihnen fehlten die Mittel,
um ihre jungen Schutzbefohlenen für die Schule auszurüsten.
Sie begnügten sich nicht damit, für ihr Engagement gelobt zu werden,
sondern sie baten Frau Isasi-Díaz, ihre persönlichen Möglichkeiten
der Unterstützung auszuschöpfen. Daraus wurde ein Spendenappell,
der einige Mittel einbrachte.
Das Entscheidende an der Situation war die gleichberechtigte Begegnung.
Spenden zu sammeln oder Protestbriefe zu schreiben ist kein Akt der
Güte und Muße, sondern das Eingeständnis, mit dem Rest der Welt verbunden zu sein.
Unser Ich ist nicht vollständig ohne ein Du.
Ohne unser Gegenüber sind wir nicht wir selbst.
Arme und unterdrückte Menschen existieren nicht unabhängig
von unserer Situation. Weil wir wir sind, sind sie sie.
Dabei gilt zu bedenken, dass Armut ein politisches Problem ist.
Wir haben uns unsere Privilegien nicht mit eigener Hand genommen.
Aber um wir selbst zu sein und uns selbst zu erkennen, müssen wir
uns unserer privilegierten Lebensumstände bewusst werden und
die Konsequenz daraus ziehen:
Wir sind moralisch dazu verpflichtet, Verantwortung für unseren
Reichtum zu übernehmen und uns für die Anliegen der Armen zu öffnen.
Die „Occupy“-Bewegung in den USA etwa hat die Diskussion über
den Kapitalismus verändert, und Frau Isasi-Díaz sympathisiert
mit der Idee einer „Occupy Faith“-Bewegung, die eine ähnliche
Gesellschaftskritik zugunsten eines fairen Miteinanders ins
Zentrum des christlichen Glaubens stellt.
Dem neoliberalen Trend der Privatisierung stellt sich
zum Beispiel die US-Finanzexpertin Elizabeth Warren entgegen,
die auch eine 2010 von Präsident Barack Obama bewilligte
Verbraucherschutzbehörde für Finanzprodukte durchsetzte.
Schließlich fahren auch Millionäre, die sich aufgrund ihrer
finanziellen Mittel als über staatliche Versorgungssysteme
erhaben fühlen, auf Straßen, die mit Steuergeldern finanziert wurden.
Frau Isasi-Díaz erwähnte in diesem Zusammenhang auch die
Äußerung Johannes Paul des II., jedes private Besitztum sei mit einer sozialen Hypothek belegt.
Wie soll nun eine Befreiung aussehen?
Eine gesunde, solidarische (Welt-)gesellschaft zeichnet sich
für die Vortragende aus durch „fullness of life“.
Dies entspricht dem, was Indigene in Südamerika unter
el buen vivir verstehen: Gut (als Adverb verstanden!) zu leben
bedeutet demnach, dass Menschen, Gemeinschaften und
die Natur in Harmonie leben, einander respektieren und keine Gewinne
auf Kosten der anderen Mitglieder der Gemeinschaft anstreben.
Auch im Königreich Bhutan setzt man dem Gewinnstreben
andere Werte entgehen: statt dem Bruttosozialprodukt
ist hier das aus vier Säulen und acht Indexen basierende Prinzip des
„Bruttosozialglücks“ Maßstab für Glück und Zufriedenheit.
Das Beispiel des nach westlichen Maßstäben wirtschaftlich
unterentwickelten Königreichs Bhutan wirft außerdem
die Frage nach Sinn und Ziel von Entwicklungspolitik,
und Entwicklungszusammenarbeit als Alternative, auf.
Martha Nussbaum, Philosophin und Professorin
für Rechtswissenschaften und Ethik an der University of Chicago,
entwickelte in diesem Bereich in den 1980er Jahren gemeinsam
mit Amartya Sen den „Fähigkeiten-Ansatz“,
der Fähigkeiten (im Sinne von substantiellen Freiheiten wie einem
langen Leben, Beteiligung an wirtschaftlichen Transaktionen
und politischer Teilhabe) als konstitutive Bestandteile
von Entwicklung ansieht und Armut als Entzug von Fähigkeiten definiert.
Die von Isasi-Díaz aufgegriffenen Themen zeigen,
dass Solidarität auf der Ebene der Werte und Maßstäbe ansetzen muss.
Solidarität entsteht und wird notwendig, weil wir soziale Wesen sind.
Sie ist ein menschlicher, kein allein christlicher Wert.
Die anfangs erwähnte, beidseitige Beziehung zwischen
Angehörigen der Ersten und der Dritten Welt braucht
keine Intimität oder Vertrautheit, um funktionieren zu können.
Auch aus Gebieten, die weit von uns entfernt sind, erreichen
uns Botschaften, Ansprüche und Erwartungen.
Wir wissen um die Verknüpfungen unseres Wohlstandes
mit der Armut in der Welt. Wenn wir unserer Verantwortung
gerecht werden wollen, können wir
keinen „individuellen“ Weg gehen und uns
der beidseitigen Beziehung entziehen.
Aber auch in unterprivilegierten Gruppen entsteht
Solidarität nicht automatisch. Isasi-Díaz berichtete
hier von Latinas in den USA, die sich aufopfern,
um ihren Kindern den Besuch Oberschule oder
sogar der Universität zu ermöglichen.
Die nun gebildeteren Kinder schämen sich oft
für die Einfachheit ihrer Mütter, anstatt ihnen dankbar zu sein.
Als Einwanderer zweiter Generation meinen sie,
sich in die Erste Welt einkaufen und anpassen zu müssen.
Häufig entwickeln sie erst mit Heirat und Familiengründung
ein Bewusstsein dafür, dass ihre eigene Stellung
auf der Unterstützung der Müttergeneration beruht.
Im Sinne der Solidarität wäre es für diese jungen Amerikaner wichtig,
sich weiterhin in ihrer Herkunftsgemeinschaft verwurzelt zu sehen
und zu versuchen, dieses Prinzip der gegenseitigen Hilfe in ihrem
neuen gesellschaftlichen Umfeld zu etablieren.
Natürlich können wir nicht in allen Lebensbereichen gleichermaßen
Verantwortung für unsere Privilegien übernehmen und uns
solidarisch mit den sozial und wirtschaftlich Unterdrückten zeigen.
Aber wir können Schwerpunkte in einigen Bereichen setzen.
Auch unser Leben im materiellen Sinn zu vereinfachen kann helfen,
das „wir“ zu entdecken.
An dieser Stelle kommt eine wichtige Frage auf: Wie sollen
wir mit den Unterdrückern, den Reichen, umgehen?
Frau Isasi-Díaz stimmt zu, dass dies ein heikler Punkt sei.
Sie wies darauf hin, dass es auch unter den Superreichen Menschen gibt,
die sich in der Verantwortung sehen, etwa Warren Buffet und Bill und Melinda Gates,
die seit Jahren nicht nur die Zinsen, sondern auch die Substanz
ihres Vermögen in private Wohltätigkeitsstiftungen investieren.
Generell wird es aber wohl schwer sein, den Superreichen zu vermitteln,
dass sie den Rest der Gesellschaft (also sowohl uns als Mittelschicht,
als auch die Ärmsten) brauchen.
Ada María Isasi-Díaz bezeichnet sich denn auch ganz offen
als historische Utopistin, die fest an das „Wir“-Gefühl glaubt, weil sie es z.B. in indigenen Gemeinschaften erlebt hat.
Ada María Isasi-Díaz ist Prof. em. für Ethik und Theologie
an der Drew University, New Jersey.
Kontakt: aisasidi@drew.edu.
Homepage: http://users.drew.edu/aisasidi/.
Ihr neues Buch, das die im Vortrag vorgestellten Ideen entwickelt,
wird 2013 unter dem Titel Justicia:
A Reconciliatory Praxis of Care and Tenderness bei der Fortress Press erscheinen.
[4] http://en.wikipedia.org/wiki/Martha_Nussbaum, Abschnitt „The Capability approach“,
Frau Isasi-Díaz empfiehlt hierzu auch Nussbaums 2000
bei der Cambridge University Press erschienenes Buch Women and Human Development.